Die Gesellschaft hat sich verändert. Da braucht es ganz neue Konzepte.
© Adobe Stock
REPORT

Der Mut zu neuen Konzepten macht sich bezahlt

Als der Kindergarten in Deutsch Goritz aus allen Nähten platzte, wollte man sich erst mit einem Provisorium behelfen. Dann beschloss Bürgermeister Heinrich Tomschitz, gleich etwas Anständiges zu machen. Eine goldrichtige Entscheidung.
von  Wolfgang Rössler , 9. März 2022

Streng genommen gibt es in Deutsch Goritz nicht einen Kindergarten, sondern zwei, die durch einen Garten inklusive Spielplatz miteinander verbunden sind. Und die Kinder entscheiden in der Früh stets aufs Neue, in welchem Gebäude sie den Tag verbringen möchten. Wichtig ist nur, dass sie sich zu Beginn auf einem Tablet anmelden. Dazu gibt es eine App, in der jedes Kind ein eigenes Symbol hat. Sie drücken drauf und sind eingecheckt. Das Programm hat der Vater eines der Kinder programmiert, es klappt reibungslos.

Ungewohntes Konzept

Als der Bürgermeister der steirischen Gemeinde mit knapp 1.800 Einwohnern vor ein paar Jahren von dem Konzept erfuhr, war er skeptisch. Dass bereits Kleinkinder selbstständig Entscheidungen treffen, klingt in der Theorie charmant. Doch kann das auch im Alltag funktionieren? Aber Heinrich Tomschitz vertraute auf die Expertise von Kindergartenleiterin Birgit Steyer. Und das sei goldrichtig gewesen, meint er heute: „Alle Skeptiker wurden eines Besseren belehrt. Die Selbstständigkeit der Kinder wird irrsinnig gefördert.“ Mit seinem innovativen Kinderbetreuungsprojekt ist Deutsch Goritz inzwischen eine Vor-zeige-gemeinde. Das war vor ein paar Jahren noch anders.

Besser gleich anständig

Damals platzte der gemeindeeigene Kindergarten mit zwei Gruppen aus allen Nähten. Da traf es sich zunächst gut, dass es gleich daneben ein anderes Haus im Besitz der Gemeinde gab, in dem sich jahrzehntelang ein Malereibetrieb eingemietet hatte. Der Besitzer des Unternehmens ging in Pension, einen Nachfolger gab es nicht. Kurz spielte Bürgermeister Tomschitz mit dem Gedanken, die Malerwerkstatt einfach zu einer weiteren Gruppe auszubauen. Was zunächst wie ein charmantes Provisorium erschien, entpuppte sich bald als Ding der Unmöglichkeit. „Wir haben Rücksprache mit der zuständigen Abteilung bei der steirischen Landesregierung gehalten. Dort hat man uns geraten, besser gleich was Anständiges zu machen.“ Ein Tipp, den sich der Ortschef zu Herzen nahm.

Alle Skeptiker wurden eines Besseren belehrt.

Heinrich Tomschitz, Bürgermeister

Deutsch Goritz sollte nicht einfach nur eine Erweiterung des Kindergartens bekommen. Tomschitz dachte größer:  „Kinderbetreuung ist ein vorrangiges Thema in unserer Gemeinde“, sagt er. Die neue Tagesstätte sollte mit einem mutigen Konzept pädagogisch wie baulich auf dem neuesten Stand der Technik sein. Im Gemeinderat stellte man sich der Aufgabe und holte das Team des bestehenden Kindergartens von Beginn an dazu. Und bald wurde auch klar: Billig wird die Sache nicht. Aus eigener Kraft konnte die Gemeinde das Projekt nicht stemmen, neben verschiedenen Förderungen musste man auch Darlehen aufnehmen. Dafür sollte Deutsch Goritz eine Kindertagesstätte bekommen, die „alle Stückeln spielt“ und auf Jahrzehnte ausgerichtet ist.

Das neue Kindergarten-Gebäude ist offen und luftig – mit allem, was ein Kinderherz begehrt

Ein Campus für Kinder

Das alte Gebäude mit der Malereiwerkstatt wurde zur Gänze geschliffen, um Platz für einen Kindergarten-Campus zu machen, der im Vorjahr mit dem steirischen Holzbaupreis ausgezeichnet wurde. Das neue Gebäude zeichnet sich durch außergewöhnliche Offenheit aus, es gibt zahlreiche Spielecken, Schlafräume und Rückzugsorte für Kinder jeden Alters, es gibt sogar eine überdachte Holzterrasse, auf der sie an Regentagen spielen können. Dazu blieb noch genug Platz für einen neuen Parkplatz mit viel Grün, um die Verkehrssituation rund um den Kindergarten zu entschärfen. Im angrenzenden Wald können sich die Kinder mit Erlaubnis des Besitzers so richtig austoben. Auch Nachhaltigkeit wird großgeschrieben: Eine Photovoltaikanlage sorgt für Strom, der Anschluss an die regionale Nahwärme ermöglicht den völligen Verzicht auf fossile Brennstoffe. Der Kindergarten-Campus ist in jeder Hinsicht State of the Art.

Freilich: Mit einem tollen Gebäude allein ist es nicht getan. Die Architektur sollte den veränderten Aufgaben einer Kindertagesstätte Rechnung tragen. Und die haben sich in den letzten Jahrzehnten massiv geändert. Das fängt schon beim Bedarf an: Praktisch alle drei- bis fünfjährigen Kinder besuchen heute eine Kinderbetreuungseinrichtung. Richtig explodiert ist aber in den letzten Jahren der Bedarf an Betreuung für die ganz Kleinen: Krabbelstuben und Kinderkrippen verzeichnen österreichweit einen Zuwachs von sage und schreibe 77 Prozentpunkten. Derzeit besucht jedes vierte Kind unter drei Jahren eine Krabbelstube oder Krippe. Experten gehen aber davon aus, dass diese Zahl weiter steigen wird.

Das Kindergarten-Team von Deutsch Goritz

Die Zeiten, in denen Familien mit einem einzigen Einkommen finanziell über die Runden kommen, sind für die allermeisten längst vorbei. Das Leben ist teurer geworden, die Ansprüche sind höher. Dass Kinder im Vorschulalter den ganzen Tag zu Hause oder bei den Großeltern verbringen können, ist auch am Land nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Dazu kommen neue Karenzmodelle: Mütter mit einem guten Job bekommen insgesamt mehr Geld vom Staat, wenn sie nach der Geburt möglichst früh wieder ins Arbeitsleben einsteigen. Umgekehrt sind Väter, die in Karenz gehen, immer noch selten. Einerseits wurden die traditionellen Geschlechterverhältnisse durcheinandergewirbelt. Von einer wirklichen Gleichstellung zwischen Vater und Mutter kann aber in den meisten Fällen noch immer keine Rede sein.

Bürgermeister Heinrich Tomschitz

Neue Aufgaben für die Gemeinde

Diese neuen Formen der Elternschaft verursachen oft massiven Stress: Gerade bei jungen Familien fehlt es oft an Geld, zugleich steigt die Herausforderung, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Hier sind die Gemeinden ganz besonders gefordert: Sie sollen den enorm gestiegenen Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen abdecken, diese zudem für alle erschwinglich gestalten und zudem ein qualitativ hochwertiges pädagogisches Konzept anbieten. Denn klar ist auch: Je mehr Zeit die Kleinen in Krippe, Kindergarten und Hort verbringen, desto wichtiger werden diese Einrichtungen für ihre Entwicklung. Ein großer Teil der Erziehungsarbeit wird heute in öffentlichen oder privaten Einrichtungen geleistet: ob das der Umgang mit Aggressionen und Frust ist, Manieren bei Tisch oder das soziale Verhalten sind. Auch gesunde Ernährung ist immer stärker ein Thema: Viele Kinder sind von zu Hause Softdrinks und Fertiggerichte gewohnt. Sie lernen oft erst im Kindergarten, dass man Gerichte auch anders zubereiten kann.

Auch darauf wird in Deutsch Goritz großer Wert gelegt. Im Kindergarten gibt es eine eigene Küche, Gerichte werden mit regionalen Zutaten gekocht. „Die Kinder können an der Entstehung ihres Mittagessens teilhaben. Sie sehen zu und werden auch eingebunden“, sagt Bürgermeister Tomschitz. „Natürlich nur“, schränkt er ein, „wenn sie es wollen.“

Spiel und Spaß im Sommer

Neben dem klassischen Kindergarten gibt es auch eine Krippe für Kinder unter drei Jahren, die halbtags geöffnet ist. Sollte das nicht reichen, können die ganz Kleinen den Nachmittag im Kindergarten verbringen. Dazu kommt bald ein umfangreiches Programm für die schulfreie Zeit. „Unsere nächste Herausforderung ist die Ferienbetreuung“, sagt Tomschitz. Das soll vier Sommerwochen lang dauern – damit es möglichst spannend wird, nimmt die Gemeinde in dieser Zeit zusätzliches Personal auf. „Es soll ein Feriencamp sein, kein Lerncamp“, sagt der Bürgermeister. Soll heißen: Die vier Wochen sollen den Kindern Spaß machen und zusätzlich ihre Eltern entlasten.

Die Kinder lernen, einander zu helfen und auf die eigene Entscheidungsfähigkeit zu vertrauen.

Birgit Steyer, Kindergarten-Leiterin

Möglich wurde all das auch, weil Bürgermeister Tomschitz der Leiterin des Kindergartens absolut vertraut. Die Gemeinde habe Birgit Steyer beim pädagogischen Konzept weitgehend freie Hand gelassen, erzählt er. Und das sei im Nachhinein betrachtet die richtige Entscheidung gewesen.

Steyer ging es um ein Gesamtkonzept, das einerseits dem gestiegenen Betreuungsbedarf Rechnung trägt. Andererseits hat die Pädagogin eine klare Vorstellung davon, was eine Kindertagesstätte leisten muss: „Kinder sollen lernen, einander zu helfen und auf ihre eigene Entscheidungsfähigkeit zu vertrauen“, sagt die Kindergartenleiterin. Am sichtbarsten wird dieses Konzept bei der freien Wahl des Aufenthaltsortes. Zugleich lernen sie spielerisch, aufeinander aufzupassen. Wenn eines der ganz Kleinen durch den Garten von einem Gebäude zum anderen geht, wird es von einem  älteren Kind begleitet. Verantwortung übernehmen: Das wird im Kindergarten-Campus großgeschrieben.

Mit der Zeit kommt die Neugier

Passieren kann dabei übrigens nichts: Denn der Garten ist von beiden Häusern aus gut einsehbar, die Pädagoginnen sehen sofort, wenn die Kinder auf der anderen Seite gut angekommen sind. Damit sie sich nicht verlaufen, gibt es sogar Markierungen am Boden. Befürchtungen, dass sich am Ende alle Kinder in einem Gebäude sammeln würden, haben sich übrigens als unberechtigt erwiesen. Ein Zeichen dafür, wie individuell schon die Kleinsten agieren.

Am Anfang seien die meisten noch recht ängstlich, erst mit der Zeit käme die Neugier, selbst herauszufinden, wie es im anderen Gebäude so aussieht. Vor allem die Älteren könnten dann auch kleine Botengänge absolvieren: Bastelmaterial oder eine Druckerpatrone von einem Gebäude zum anderen zu bringen. All das unter Aufsicht: Die Kinder lernen Selbstverantwortung im geschützten Bereich.

Es gibt noch viel zu tun

Der Kindergarten-Campus ist durchaus eine Belastung für das Budget, auch die laufenden Kosten werden durch Elternbeiträge nicht abgedeckt, die Gemeinde muss Geld zuschießen. Bürgermeister Tomschitz ist jedoch überzeugt, dass die beste Betreuung und Förderung der Kinder im Ort die Kosten lohnt. „Wir haben uns als Gemeinde entschieden, einen Schwerpunkt auf Kinderbetreuung und Bildung zu setzen“, sagt der Ortschef. Und der neue Kindergarten sei erst der Anfang: „Wir werden uns in den nächsten zehn Jahren nicht zurücklehnen. Es gibt noch viel zu tun.“    

Von Deutsch Goritz lernen

  • Besser gleich richtig. Die Errichtung eines zeitgemäßen Kindergartens ist teuer. Aber es ist eine Investition in die Zukunft. Und der Bedarf an leistbarem und pädagogisch gutem Angebot wird in den kommenden Jahren steigen.
  • Vertrauen auf Fachleute. Es muss ein Vertrauensverhältnis zu den Pädagoginnen und Pädagogen geben. Diese können am besten einschätzen, was Kinder brauchen.
  • Umfassendes Angebot. Ein Kindergarten alleine ist zu wenig. Es braucht zunehmend auch Betreuungsmöglichkeiten für die ganz Kleinen, am besten ganztags.
  • Einigkeit. Kinderbetreuung gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer Gemeinde. Hier sollte es auch im Gemeinderat eine möglichst breite Mehrheit geben.