Die älteste Gemeinde Österreichs hat die Bevölkerungsabnahme erfolgreich gestoppt
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EISENERZ

Frische Ideen für greise Leute

Nirgendwo anders in Österreich sind die Menschen so alt wie in der steirischen Gemeinde Eisenerz. Dort stemmt sich ein junger Bürgermeister gegen die Entvölkerung. Mit Erfolg.
von  Klaus Höfler , 18. April 2023

Eisenerz starb. Und das nach Plan. „Re-Design“ nannte sich ein Stadtentwicklungsprojekt, das 2005 gestartet wurde – und rückwärts lief. Es ging nicht um Wachstum, sondern um Verkleinerung, denn die obersteirische Bergarbeiterstadt war in den letzten 50 Jahren Schauplatz einer fast beispiellosen Entvölkerung: Die Einwohnerzahl sank von 14.000 sukzessive auf zuletzt 3.700.

Abstieg und die Abwanderung

Dem Ort waren im Laufe der Zeit die Arbeit und damit seine Zukunft verloren gegangen. Der kulissenprägende Erzberg hatte über Jahrhunderte Wohlstand in die Stadt zu seinen Füßen gebracht. Als aber ab den 1960er-Jahren Maschinen die menschliche Arbeitskraft im Bergbau ersetzten, begann der Abstieg und die Abwanderung. 240 Mitarbeiter sind aktuell noch am Berg beschäftigt, einst waren es 4.000. Schon 2004 stand knapp ein Viertel der 2.900 Mietwohnungen leer. Geschäfte und Gasthäuser sperrten zu. Übrig blieb ein lebloser historischer Stadtkern mit zunehmend devastierten Gebäudestrukturen. Eine Teufelsspirale. Mietausfälle führten dazu, dass Wohnbauträger nicht mehr in die Sanierung investierten, der Kommune wurde es aufgrund sinkender Einnahmen und steigender Ausgaben für die Infrastrukturinstandhaltung zunehmend unmöglich, selbst Verbesserungen einzuleiten. Sie musste sich auf eine Verwaltung des Schrumpfens zurückziehen.

Bevölkerungsrückgang stoppen

Bis 2005 „Re-Design“ gestartet wurde. Ziel der Initiative war es, bis 2021 den Bevölkerungsrückgang zu stoppen und durch gezielte Adaptierungen das Erscheinungsbild des Orts an die neuen Dimensionen anzupassen und dabei den lebenswerten Charakter zu konservieren. „Das ist bis heute eine enorme Herausforderung“, gibt Bürgermeister Thomas Rauninger unumwunden zu. Er will aber weg vom Jammern über den Niedergang und hin dazu, die diesbezüglich unerfreuliche Wirklichkeit als Chance für eine Neuorientierung zu nutzen. Das ist in jüngster Vergangenheit bereits gelungen: Die Einwohnerzahl stagniert seit drei bis vier Jahren - zumindest, was die Absiedelung betrifft.

Die Zahl der Einwohner ist in Eisenerz sukzessive von 14.000 auf 3.700 gesunken.

Altern in Würde und im Grünen

Der demografische Wandel ist aber nicht aufzuhalten. Heute sind in Eisenerz 39,6 Prozent der Einwohner über 65 Jahre alt, aber nur 10,8 Prozent unter 20. Der Österreichschnitt liegt bei den Senioren bei 19,4 Prozent, bei den unter 15-Jährigen bei 19,3 Prozent. Das hievt Eisenerz in eine bundesweite Führungsposition: Mit einem Altersdurchschnitt von 55,73 Jahren ist es die älteste Gemeinde der Republik. Eine logische Folge der Überalterung: Immer weniger jüngere Männer und Frauen bedeuten auch immer weniger potenzielle Eltern. So hat sich die Zahl der Geburten in Eisenerz in den vergangenen 20 Jahren halbiert - 17 neue Erdenbürger waren es zuletzt. „Es wird mehr gestorben als geboren“, sagt Rauninger trocken. Tatsächlich werden in Eisenerz jedes Jahr rund 80 Personen mehr begraben, als auf die Welt kommen.

Zur Person

Bürgermeister Thomas Rauninger setzt auf ganz neue Konzepte.

Abgewanderte zurückholen

Ortschef Rauninger hat für seine Stadt aber ein den Prognosen angepasstes Zukunftsbild. Man wolle ein Ort sein, an dem ein Altern in Würde und in einer landschaftlich reizvollen Umgebung möglich ist. Damit sollen im Bestfall nicht nur die eigenen Senioren im Ort gehalten werden –
Abgewanderten soll eine Rückkehr im Alter und Auswärtigen überhaupt ein Umzug schmackhaft gemacht werden. Aktuell läuft eine Machbarkeitsstudie, die das Potenzial für betreutes und betreubares Wohnen ausloten soll. Letzteres hat das Ziel, eine selbstständige Lebensweise im Alter zu ermöglichen. Dafür wird eine seniorengerecht gebaute und eingerichtete Wohnung mit einem ambulanten Betreuungsangebot durch mobile Dienste kombiniert, das allerdings nur dann gebucht und bezahlt werden muss, wenn man es tatsächlich beansprucht.

„Stolpersteine“ werden beseitigt

Schon jetzt setzt man auf unbürokratisch verdichtetes Service. Im Sinne einer Barrierefreiheit räumt man „Stolpersteine“ im Stadtbild Schritt für Schritt aus dem Weg und senkt beispielsweise Randsteinkanten rollatorgerecht ab. Über das Sozialreferat wird ein Mal pro Woche eine kostenlose Rechtsberatung angeboten. Außerdem ist man aktuell dabei, ein „mobiles Sozialamt“ auf die Beine zu stellen, verrät der Bürgermeister. Dabei kommt ein Sachbearbeiter zum Kunden nach Hause und wickelt alles, was extern möglich ist, direkt vor Ort ab. Ergänzend gibt es in enger Abstimmung mit dem „Essen auf Rädern“-Service eine Initiative, die dem Vereinsamen im Alter entgegenwirken soll. Ein Mal pro Woche kann auf Wunsch ein Gemeindemitarbeiter auf einen kurzen Besuch vorbeikommen, auch regelmäßige kurze Telefonate sind als „Absicherung, dass sich jemand um einen kümmert“ (Rauninger) möglich. „Wenn man demografisch so aufgestellt ist wie wir, braucht es diese Bausteine für einen altersgerechten Alltag, die weit über die Kernaufgaben eine Gemeinde hinausgehen“, ist der Bürgermeister überzeugt: „Da muss man über seinen Schatten springen und einfach da sein.“

Solange die Menschen mobil sind, gehen sie einkaufen.

Thomas Rauninger

Der Tourismus boomt

Bei dieser Angebotsoffensive lerne man auch im Tun, relativiert er. So wurde ein mobiler Greißler nicht ausreichend angenommen. „Solange die Menschen mobil sind, gehen sie gerne einkaufen, um im sozialen Kontakt mit der Umgebung zu bleiben“, schlussfolgert Rauninger. Eine psychologische Tangente, die 2018 einen schweren Knick bekam. Das Landeskrankenhaus im Ort wurde zugesperrt. Die ein Jahr später mit viel politischem Pomp präsentierte Alternative als Ausbildungs- und Simulationskrankenhaus, in dem statt Patienten Puppen behandelt wurden, zerschlug sich, die Betreibergesellschaft musste Insolvenz anmelden. Heute wird der Gebäudekomplex mit Hubschrauberlandeplatz und Parkanlage auf Immobilienplattformen um 1,9 Millionen Euro angeboten.

Es gibt aber auch positive Beispiele: Im Zuge des „Re-Design“-Programms mutierte eine ehemalige Bergarbeitersiedlung zu einem touristisch genutzten Alpin-Resort. Wohnungen werden als Selbstversorger-Apartments angeboten. Die erste Projektphase startete 2015 mit 70 Apartments und war nach kurzer Zeit ausverkauft. Es scheint, als wolle die Stadt mit aller Kraft eine vorgezeichnete Entwicklung stoppen, zumindest aber verzögern. Das passt
zu Eisenerz. 1868 wurde hier August Musger geboren – der Erfinder der Zeitlupe.

Wie Eisenerz mit der Situation umgeht

  • Überalterung. Mit dem Rückgang der Industrie seit den 1960er-Jahren zogen die Jungen langsam weg, die Pensionisten blieben. Die steirische Stadtgemeinde ist extrem geschrumpft und zugleich veraltet: Heute leben dort doppelt so viele Menschen über 65 Jahre wie im Österreich-Schnitt.
  • Redimensionierung. Zunächst musste die Infrastruktur an die neuen Gegebenheiten angepasst werden. Das hieß auch: akzeptieren, was sich einfach nicht mehr ändern lässt.
  • Aus der Not eine Tugend. Die Gemeinde setzte sich das Ziel, ein Altern in maximaler Würde zu ermöglichen. Auch aus anderen Regionen kommen Menschen nach Eisenerz, um den Lebensabend zu genießen.
  • Tourismus. Die Neuorientierung der steirischen Gemeinde trägt durchaus erstaunliche Früchte. So boomt inzwischen der Tourismus in Eisenerz. Aus Bergarbeiterwohnungen wurden Selbstversorger-Apartments.