Wenn eine Gemeinde das Wegenetz nicht mehr garantieren kann, droht Ärger
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STRASSENBAU

Wenn es nicht wie selbstverständlich weitergeht

Das Straßen- und Wegenetz gehört zu den Kernaufgaben einer Gemeinde. Was aber, wenn es nicht mehr funktioniert? Weil eine wichtige Straße nicht zu reparieren ist. Oder weil ein Bürgermeister eine Zufahrt nicht bauen will.
von  Wolfgang Rössler , 18. März 2024

Sogar der „Standard“ widmete dem Fall eine große Reportage. Ein Redakteur fuhr kurz vor Weihnachten aus Wien gut 320 Kilometer Richtung Süden, nach Maria Rain (Kärnten). Genauer: in den Ortsteil Guntschach, der seit einem Felssturz vor mehr als einem Jahr nur über einen beschwerlichen Fußmarsch erreichbar ist. Gut 70 Menschen leben dort und es war wohl nicht allzu schwer, darunter welche zu finden, die auf Bürgermeister Franz Ragger schimpften. „Untätigkeit“ war noch der höflichste Vorwurf. Auch in anderen Blättern bekam er sein Fett ab.

Bürgermeister unter Druck

Eigentlich möchte Ragger gar nicht mehr mit Medien reden. Für die BÜRGERMEISTER Zeitung macht er eine Ausnahme. Kaum jemand, erzählt der Ortschef, habe wirklich wissen wollen, was er zu sagen hat. Warum er nicht mehr Druck gemacht hat, damit schnell eine neue Straße gebaut wird. „Ich bin auf die Verfassung vereidigt worden“, sagt Ragger. Und das nehme er ernst, man könne sich doch als Bürgermeister nicht einfach über die gesetzlichen Spielregeln hinwegsetzen. Erst recht nicht, wenn es um die Gefährdung von Menschenleben geht.

Zur Person

Franz Ragger, Bürgermeister von Maria Rain, sagt: „Ich muss mich an die Gesetze halten.“

In den allermeisten Gemeinden spielt der Straßenbau eine zwar wichtige, zugleich aber auch wenig beachtete Rolle. Hin und wieder gibt es vielleicht Beschwerden, weil ein Schlagloch nicht schnell genug ausgebessert wird. Einige Leute ärgern sich, weil durch den Bau einer Straße Grünland zerschnitten wird, andere, weil keine Straße gebaut wird. In den meisten Fällen läuft aber alles reibungslos.

Man ist es gewöhnt, in Österreich zu leben, wo das kommunale Straßen- und Wegenetz zu den besten der Welt gehört. Die Leute jammern auf hohem Niveau, wenn sie einmal den Fuß vom Gaspedal nehmen müssen, weil eine Straße nicht mehr als einen 50er verträgt.

Die Ortschaft Guntschach wird mit einer Fähre versorgt.

Unbeherrschbare Naturgewalten

So gesehen ist der Zorn der Leute in Guntschach nachvollziehbar. Einige von ihnen mussten sogar zeitweilig ihre Häuser verlassen und in ein Hotel ziehen, damit die Kinder rechtzeitig in die Schule kommen. Ein Landwirt konnte letztes Jahr seine Ernte nicht einfahren, weil es keine Zufahrt für den Mähdrescher gab. Auch alle anderen müssen massive Einschränkungen der Lebensqualität hinnehmen. Ragger muss das ausbaden. Nicht weil ihn eine persönliche Schuld treffen würde. Sondern weil er der Bürgermeister ist und eine besonders unglückliche Verkettung von Naturereignissen in seine Amtszeit fällt.

Gefrorenes Wasser sprengte den Hemmafelsen

Was war geschehen? Am 15. Dezember 2022 kam es an der einzigen Straße, die Guntschach mit der Außenwelt verbindet, zu einem Felssturz. Der so genannte „Hemmafelsen“, ein gut 60 Meter langes Massiv, krachte nach unten. In die tiefen Risse des brüchigen Gesteins war Wasser eingedrungen, das durch die Kälte zu Eis wurde und irgendwann den Felsen von innen sprengte. Das so etwas passieren könnte, hatte man in Maria Rain schon seit Jahrzehnten befürchtet. Doch eine Sicherung habe sich als praktisch unmöglich erwiesen, sagt Bürgermeister Ragger. „Man hat versucht, den Felsen zu bearbeiten. Aber das war nicht machbar.“

Immerhin kam bei dem Naturereignis niemand zu Schaden. „Eine halbe Stunde zuvor haben dort noch Eltern mit dem Auto ihre Kinder in die Schule gebracht“, sagt Ragger. Man möchte sich nicht ausdenken, was noch hätte passieren können.

Es geht um die Arbeiter. Für die Baggerfahrer besteht Lebensgefahr.

Franz Ragger, Bürgermeister von Maria Rain

Erst schien es so, als sei die Situation ärgerlich, aber beherrschbar. Rasch wurde ein provisorischer Weg gebaut, mit dem die Zufahrt nach Guntschach problemlos möglich war. Dann aber begann es im Sommer in Kärnten wie wild zu regnen, es kam zu einem Erdrutsch und auch der Notweg wurde unpassierbar. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

Ein neuer Felsbruch drohte

Fachleute warnten eindringlich vor einer behelfsmäßigen Sanierung der Zufahrt. Zu groß sei die Gefahr eines weiteren Felsbruchs, gerade jetzt im Winter. „Für die Baggerfahrer besteht Lebensgefahr. Es kann jederzeit etwas passieren“, sagt Ragger. Um das Risiko zu minimieren, wurden zunächst Probebohrungen aus dem Rest des Felsens entnommen. In zäher Kleinarbeit wurden diese aufbereitet, beschriftet und untersucht. So wollen es die Vorschriften.

 

Als Bürgermeister hafte ich hier für eine falsche Entscheidung.

Franz Ragger

Statt Baggern kamen Geologen

Bloß: Währenddessen müssen die Einwohnerinnen und Einwohner von Guntschach entweder einen mühsamen Fußweg von zehn Minuten auf sich nehmen oder auf eine Fähre über die Drau warten, die das Dorf mit der Außenwelt verbindet. Sie wollen, dass etwas weitergeht, dass endlich die Bagger auffahren. Stattdessen mussten sie zusehen, wie Geologen das Gestein studierten. Der Frust ist nachvollziehbar. „Ich weiß, dass sich das der Bevölkerung nur schwer erklären lässt“, sagt Ragger. „Aber man muss die Arbeiter schützen. Wenn ich als Bürgermeister hier eine falsche Entscheidung treffe, hafte ich mit meinem Privatvermögen.“

Sogar das Bundesheer musste mit Helikoptern ausrücken.

Wie man in der Krise kommuniziert

  • Zuversicht. Blicken Sie gemeinsam mit der Bevölkerung nach vorne.
  • Glaubwürdigkeit. Bleiben Sie glaubwürdig. Lassen Sie sich nicht auf Spekulationen ein.
  • Information. Offenheit und Transparenz sind in Krisensituation besonders wichtig. Ganz schlecht ist es, zitzerlweise schlechte Nachrichten zu übermitteln. Raus mit der Sprache!
  • Nicht davonlaufen. Die Leute werden ihrer Verärgerung Luft machen, auch Ihnen gegenüber. Verstecken Sie sich nicht. 

Das freilich war nicht das einzige Problem, mit dem Ragger zu kämpfen hatte. Denn das gesamte Projekt ist alles andere als billig. Fast drei Millionen Euro kostet es, die Zufahrtsstraße wirklich sicher zu machen. „Wenn die Finanzierung nicht steht, kann man keinen Bauauftrag erteilen“, sagt Ragger. Inzwischen hat er 2,5 Millionen an Förderungen aufgestellt, dazu kommt ein Darlehen. Maria Rain ist keine besonders reiche Gemeinde. Und mit einer Naturkatastrophe wie dieser kann man beim besten Willen nicht rechnen.

Der Felsen soll begehbar werden

Wenn alles gut geht und es keine Komplikationen gibt, kann die neue Zufahrtsstraße wohl in ein paar Monaten eröffnet werden. Die Reste des Hemmafelsens werden aufwendig gesichert, es soll dort sogar eine kleine Aussichtsplattform geben. Es wird ein schönes Projekt, Ragger hofft, dass es auch Leute von auswärts anzieht.

Hätte er im Nachhinein etwas besser machen können? „Was hätte ich denn anders machen sollen?“, sagt Ragger. „Ich habe mir beim besten Willen nichts zuschulden kommen lassen.“ Seit 15 Jahren ist er Bürgermeister von Maria Rain, bei der letzten Wahl wurde er mit mehr als 60 Prozent der Stimmen wiedergewählt.

Machtlos gegen höhere Gewalt

Nun sehen viele nicht mehr die Erfolge seiner langen Amtszeit, sondern nur noch die für manche katastrophalen Auswirkungen entfesselter Naturgewalten, denen der Ortschef nicht schnell etwas entgegensetzen konnte. Es gibt – das ist eine bittere Wahrheit – auch in der Kommunalpolitik gefährliche Unwägbarkeiten; eine höhere Gewalt, gegen die man machtlos ist.

Alte Gewissheiten hinterfragen

Die Begeisterung der betroffenen Anrainer hielt sich erwartungsgemäß in Grenzen, auch im Gemeinderat waren einige alles andere als glücklich. In Bad Fischau-Brunn weht nun ein anderer Wind, der Bau neuer Straßen ist keine Selbstverständlichkeit mehr: „Es ist an der Zeit, manche Dinge fundamental zu hinterfragen“, sagt Zimper. Und die Bevölkerung gibt ihm  recht: „Da habe ich bisher nur positive Reaktionen bekommen“, sagt der Bürgermeister.

Die Zufahrt ist noch immer gesperrt.

Auch Raggers frischgebackener Amtskollege Stefan Zimper hat im Zusammenhang mit einem großen Straßenbauvorhaben für Aufregung gesorgt. Also streng genommen damit, dass er ein Projekt seines Vorgängers abgeblasen hat. Der Bürgermeister von Bad Fischau-Brunn unweit von Wiener Neustadt ist allerdings in einer glücklicheren Lage: Er bekommt nämlich großen Zuspruch aus der Bevölkerung.

Zur Person

Stefan Zimper, Bürgermeister von Bad Fischau-Brunn, hat sich mit einer seiner ersten Amtshandlungen nicht nur Freunde gemacht.

Der 35-Jährige wurde erst vergangenen November zum neuen Gemeindeoberhaupt gewählt. Und bald darauf sorgte er für einen Paukenschlag: Kurz vor Beginn der Bauarbeiten für eine neue Zufahrtsstraße drückte er die Stopptaste. „550.000 Euro waren für das Projekt budgetiert.“

Doch dieses Geld, davon ist Zimper überzeugt, könne man besser investieren als in den Bau einer knapp hundert Meter langen, asphaltierten Fahrbahn. „Die Allgemeinheit sollte nicht dafür aufkommen müssen“, sagt der neue Bürgermeister. Noch seien für das Vorhaben keine nennenswerten Kosten entstanden.

Ist die Zufahrt über eine Schotterstraße zumutbar? „Ja“, sagt Bürgermeister Stefan Zimmer.

Es ist an der Zeit, manche Dinge fundamental zu hinterfragen.

Stefan Zimper, Bürgermeister von Bad Fischau-Brunn

Zu viel Geld für ein einziges Haus

Die Hintergründe sind durchaus kompliziert. Schon seit vielen Jahrzehnten gibt es in Bad Fischau-Brunn umfangreiche Baugründe, die lange niemand so recht nutzen wollte. Irgendwann wurde dort doch ein Haus errichtet. Es blieb bei einem, obwohl Platz für bis zu acht Eigenheime wäre. Unter Zimpers Vorgänger wurde dafür eine Zufahrtsstraße geplant. Als er vereidigt wurde, war bereits alles auf Schiene, bald wären die Bagger aufgefahren.

Doch der neue Bürgermeister wollte sich eine eigene Meinung zu dem Projekt bilden. Er ließ sich die Unterlagen bringen, studierte die Rechtslage. Demnach müsste die Gemeinde eine befestigte Zufahrtsstraße bauen, wenn mehr als die Hälfte des Baulandes genutzt wird. Und davon konnte in diesem Fall keine Rede sein. Zimper traf eine mutige Entscheidung. Bald darauf berichteten mehrere Zeitungen darüber. Der frischgebackene Ortschef sorgte für helle Aufregung. „Wir sind ein kleiner Ort mit einem Straßennetz, das gut 80 Kilometer lang ist“, sagt er.

Weniger Bodenversiegelung

Schon die Instandhaltung und Sanierung reißt ein großes Loch in die Gemeindekasse, dazu kommen Erschließungen, die wirklich notwendig sind. Aber wegen einem einzigen Haus? Zimper ist überzeugt: Es ist den Anrainern zumutbar, die letzten hundert Meter auf einer ordentlich geschotterten Straße zurückzulegen. „Es geht mir nicht nur um das Geld“, sagt er. „Sondern auch um den grünen Aspekt.“ Auch in Bad Fischau-Brunn ist die Bodenversiegelung ein Thema.

 

erschienen in Ausgabe
BMZ 2024-03