Hohe laufende Kosten, keine Liquidität. Eine Horrorvorstellung in jeder Gemeinde.
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REPORT

Wie sich Hart bei Graz sanierte

Vor sieben Jahren stand Hart bei Graz vor der Zahlungsunfähigkeit. Mit einem ehrgeizigen Sanierungsprogramm konnte Bürgermeister Jakob Frey das Ruder herumreißen. Die jetzige Krise schreckt ihn kaum. Er hat Schlimmeres erlebt.
von  Wolfgang Rössler , 6. Oktober 2022

Dass eine mittelgroße Gemeinde tagelang für Schlagzeilen in allen überregionalen Zeitungen sorgt, kommt selten vor. Zum Glück, denn meist sind es keine guten Nachrichten, die über die Bezirksgrenzen hinaus für Gesprächsstoff sorgen. Im Fall von Hart bei Graz   war es ein Horrorszenario aller Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Die Gemeinde nahe der steirischen Landeshauptstadt mit gut 5.500 Einwohnerinnen und Einwohnern war Mitte 2015 zahlungsunfähig – bei Schulden in der Höhe von rund 35 Millionen Euro. Darunter 1,7 Millionen Euro an überfälligen Zahlungen für Lieferanten. Wäre Hart bei Graz ein Unternehmen, dann hätte „Chef“ Jakob Frey wohl auf der Stelle Konkurs anmelden müssen.

Doch für Gebietskörperschaften gelten andere Regeln. Und Frey leitete auch keine Firma. Er war der frisch gewählte Bürgermeister seiner Gemeinde und fest entschlossen, das Ruder herumzureißen. Dass Hart bei Graz tief in den roten Zahlen steckte, war schon länger kein Geheimnis, auch Gemeindeaufsicht und Landesregierung waren bereits alarmiert. Wie ernst die Lage wirklich war, stellt sich aber erst nach Freys Amtseinführung heraus: „Die Situation war weitaus schlimmer als befürchtet.“

Die Situation war noch schlimmer als befürchtet.

Jakob Frey, Bürgermeister

Die eine Maßnahme gibt es nicht

Zu einer derartigen Überschuldung kommt es nicht von heute auf morgen. Frey hat vor sieben Jahren von seinen Vorgängern ein schweres Erbe übernommen. Mit der Schuldfrage haben sich Gerichte beschäftigt, am Ende gab es Freisprüche. Dass in den Jahren und Jahrzehnten zuvor das Geld bei den Verantwortlichen im Gemeindeamt allzu locker gesessen ist, lässt sich in einem Rechnungshofbericht nachlesen: Es gab zwei Eishallen, einen beheizten Fußballplatz, nicht weniger als 14 Veranstaltungsräume, die zum Teil kaum benutzt wurden. Dazu kamen erhebliche Mehrkosten bei Bauprojekten, besonders ungünstige Finanzierungen und eine ziemlich ineffiziente Verwaltung. Und letztlich war wohl auch viel Pech dabei.

Die steirische Gemeinde Hart bei Graz. Foto: Karl Richter-Trummer

Schon 2017 bilanzierte man wieder ausgeglichen 

Bürgermeister Frey will darüber eigentlich gar nicht mehr reden. Es ist ihm wichtig, dass nicht der Eindruck entsteht, er wolle politsches Kleingeld wechseln. Fest steht: Als er zum neuen Bürgermeister gewählt wurde, musste er einen Weg finden, um die völlig überschuldete Gemeinde wieder in die schwarzen Zahlen zu führen. Oder besser: Wege. Denn mit einer einzigen Maßnahme war es nicht getan. Das ist eine der wichtigsten  Lehren, die man aus seiner erfolgreichen Konsolidierungspolitik ziehen kann: Die eine Maßnahme, die alles ändert, gibt es in der Regel nicht. Vielmehr sind es viele Dutzend größere und kleinere Schritte, die am Ende zum Erfolg führen. Und das Glück der Tüchtigen. Frey hatte das Ziel ausgegeben, binnen fünf Jahren erstmals wieder einen ausgeglichenen Haushalt zu verabschieden. Aufgrund unerwartet sprudelnder Kommunalsteuereinnahmen gelang das bereits 2017.

Inzwischen ist die Gemeinde, auch dank vieler florierender Betriebe im Ort, finanziell gut aufgestellt. Aus der Not heraus haben Bürgermeister Frey und sein Team bereits vor sieben Jahren jede einzelne Ausgabe der Gemeinde auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft. Die Verwaltung wurde komplett neu aufgestellt, Doppelgleisigkeiten wurden abgeschafft, ungünstige Verträge und Finanzierungen teils mit guten Argumenten, notfalls auch in zähen und heftigen Verhandlungen nachgebessert.

Zur Person

Bürgermeister Jakob Frey wurde 2015 gewählt. Schon nach zwei Jahren bilanzierte die Gemeinde wieder ausgeglichen. 

Keine Kündigungen

Dazu kommt ein neuer, verantwortungsvollerer Umgang mit dem öffentlichen Geld. Möglich wurde das auch durch die aktive Einbindung der Bevölkerung in kommunale Vorhaben: Niemand soll sich in Hart bei Graz auf andere hinausreden können, Eigenverantwortung wird großgeschrieben. Und all das, darauf ist der Bürgermeister stolz, ohne dass ein einziger Mitarbeiter oder eine einzige Mitarbeiterin gekündigt wurde. Das war auch wichtig, um die Unterstützung der Belegschaft für den mitunter schmerzhaften Sparkurs sicherzustellen. Frey versuchte die Bediensteten sanft, aber bestimmt dafür zu sensibilisieren, mit öffentlichem Geld so umzugehen, als wäre es ihr eigenes: etwa indem für jedes Angebot ein Gegenangebot eingeholt wurde. „Am wichtigsten sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihre Motivation und Kompetenz. Das beste Konzept bringt nichts, wenn es nicht von ihnen gelebt wird“, sagt der Bürgermeister.

Das ist ein weiterer wichtiger Ratschlag, den er für Gemeindechefs hat, die sich nun angesichts mittelfristig sinkender Liquidität Gedanken über möglichst schmerzlose Einsparungsmöglichkeiten machen. Frey nutzte seine Autorität als Bürgermeister, um immer wieder an die Eigenverantwortlichkeit der Gemeindebediensteten zu appellieren: indem er ihnen zuhörte, ihre Erfahrung anerkannte und sie ermutigte, Entscheidungen zu treffen – mit Blick auf das große Ganze.

Am wichtigsten sind die Mitarbeiter. Ohne ihre Kompetenz und Erfahrung geht gar nichts. 

Jakob Frey, Bürgermeister

Erfahrung ist ein oft ungenutztes Kapital

Egal ob in Betrieben oder in Gemeindeämtern: Wenn man altgedienten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zuhört, erzählen sie immer wieder davon, wie sie jahrelang Verbesserungsvorschläge gemacht haben, die von den höheren Stellen ungehört blieben. Irgendwann verstummen sie  resigniert – bis jemand kommt und aufrichtiges Interesse zeigt. Man muss nicht jede Einschätzung teilen. Aber wenn man mit weniger Geld mehr erreichen möchte, wäre es töricht, auf die Erfahrung der alten Hasen im Gemeindeamt zu verzichten – besonders auch jener, die nichts mehr werden möchten.

Erdrückende Kreditraten

Ermöglicht wurde das kleine Wunder von Hart bei Graz aber nur durch eine Soforthilfe der steirischen Landesregierung. Hätte diese nicht gleich nach Freys Wahl zum neuen Bürgermeister der Gemeinde mit 1,5 Millionen Euro unter die Arme gegriffen, wäre ein Konkurs wohl wirklich unvermeidbar gewesen. So konnten zumindest die wichtigsten Verbindlichkeiten beglichen werden, die Kommune hatte wenigstens etwas Luft zum Atmen. Viel war es nicht: „Unser jährlicher Schuldendienst betrug 500.000 Euro über der freien Finanzspritze“, sagt Bürgermeister Frey. Mit anderen Worten: In Wirklichkeit hatte die Gemeinde praktisch null Gestaltungsspielraum, selbst bei den kommunalen Kernaufgaben fehlte eine halbe Million. „Wir haben uns auf die wesentlichsten Aufgaben einer Gemeinde konzentriert“, sagt Frey. Als Beispiele nennt er etwa Infrastruktur, Straßen, Kanal sowie Kinderbetreuung. „Und alles, was den Bürgerinnen und Bürgern ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht.“

Wir haben uns auf die wesentlichsten Aufgaben einer Gemeinde konzentriert.

Jakob Frey, Bürgermeister

Tanzen für die Sanierung der Gemeinde

Ein wenig Geld kam schließlich doch in die Kasse, etwa durch den Verkauf einer der beiden Eishallen. Heute steht dort ein Biomassekraftwerk. Um zumindest einen minimalen gestalterischen Spielraum bei Investitionen zu haben, rief die Gemeinde im Jahr 2016 erstmals einen „Sanierungsball“ ins Leben. Tanzen für den guten Zweck: Alle Einnahmen und Spenden flossen auf ein sogenanntes Bürgerbudgetkonto, mit dem kleinere Projekte ermöglicht wurden. Rund 20.000 Euro kamen zusammen. Immerhin genug, um ein paar neue Spielgeräte für Kinder anzuschaffen und Hütten für den örtlichen Bauernmarkt. Bei der Verwendung des Geldes redete die Zivilgesellschaft mit, finanziert wurden damit Projekte, die schon zuvor von engagierten Bürgerinnen und Bürgern ausgearbeitet wurden.

Die Sparmaßnahmen des neuen Bürgermeisters waren zweifellos mitunter schmerzhaft. Aber es gab eben auch einen positiven, nach vorne gerichteten Aspekt: Die Einstellung der Menschen zu ihrer Gemeinde wurde verändert. Eigeninitiative wurde belohnt, man lernte, gemeinschaftlich zu denken. Die Krise hat auch zu einem Umdenken in den Köpfen geführt. Auf einmal war die Gemeinde nicht mehr nur der Ort der Verwaltung, sondern des Miteinanders, für das sich jeder und jede mitverantwortlich fühlte. Man identifizierte sich mit Hart bei Graz.

Die Gemeinde, das sind alle

Sichtbar wird das etwa bei den Vorarbeiten für das neue örtliche Entwicklungskonzept. Die Raumordnung soll künftig auf völlig neue Beine gestellt werden, mit Blick auf die kommenden Generationen, neue Formen der Mobilität und des Zusammenlebens. Die Speckgürtelgemeinde am Rande der steirischen Landeshauptstadt mit ihren großen Industrieanlagen soll zu einem grünen Vorzeigeort werden. Wie, darüber wird in diesen Wochen und Monaten breit diskutiert. „Mei Hart – unsere Zukunft“ heißt ein Bürger-beteiligungsprojekt mit gemeinsamen Spaziergängen und Ortsteilkonferenzen, bei denen die Menschen aufgerufen werden, sich gemeinsam mit Fachleuten einzubringen.

Keine Revolution soll es werden, sondern eine sanfte Weiterentwicklung in die richtige Richtung: Gutes verstärken, Schlechtes korrigieren. In zwei Jahren soll das neue Konzept dann vom Gemeinderat beschlossen und anschließend umgesetzt werden. Das ist die dritte Lektion von Hart bei Graz: Jede Krise ist auch eine Chance. Vorausgesetzt, der Wille, Probleme anzugehen, verbindet sich mit einer großen Vision für eine bessere Zukunft.

Mein Ratschlag: Lass dich coachen.

Jakob Frey, Bürgermeister

Wissen, was man kann – und was nicht

Das erfordert Mut. Und Know-how. Denn ohne externe Hilfe wäre das Konsolidierungskonzept für die Gemeinde Hart bei Graz kaum zustande gekommen. „Lass dich coachen“, ist noch ein Tipp, den Frey Ortschefs gibt, die ihre Gemeinde zukunftsfit machen möchten.

Egal, ob es darum ging, einen schonungslosen Blick auf die finanzielle Lage der Gemeinde zu bekommen, Einsparungsmöglichkeiten zu finden oder mit Kreditgebern über bessere Konditionen zu verhandeln: Frey, selbst Unternehmer, wusste stets, was er kann – und was nicht. Er holte sich einen Stab von Beraterinnen und Beratern, denen er vertrauen konnte und die verstanden, was er wollte. Am Ende ist es auch eine gesunde Mischung aus Selbstvertrauen und Demut vor der Komplexität der Herausforderung, die für den Erfolg verantwortlich ist.

Bürgermeister Frey ist jedenfalls gerüstet, sollten Inflation und Konkurse demnächst zu einer neuen Krise führen. Er hat schon Schlimmeres hinter sich.

Von Hart bei Graz lernen

  • Belegschaft. Ohne Mitarbeiter geht es nicht.  Sie müssen von den Sparmaßnahmen überzeugt werden, sich mit ihrer Erfahrung und Kompetenz einbringen.
  • Viele kleine Maßnahmen. Den einen großen Wurf gibt es in der Regel nicht. Meist sind es viele kleine und mittlere Maßnahmen, die in Summe den Ausschlag geben.
  • Positive Ziele. Wenn unpopuläre Maßnahmen mit einer Vision für die Zukunft verbunden werden, sind sie nicht ganz so schmerzhaft.
  • Verantwortung. Es geht oft einfacher, wenn man die Bevölkerung in die Verantwortung nimmt. Gemeinde, das sind alle, die dort leben.