Was bedeutet es, wenn es nur wenige Stunden am Tag Strom gibt? Wie geht die Bevölkerung damit um?
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ODESSA

Wie wir gelernt haben, im Dunkeln zu überleben

Die Journalistin Karina Beigelzimer lebt in der ukrainischen Hafenstadt Odessa, die seit Monaten weitgehend ohne Strom ist. Hier erzählt sie, wie sich die Menschen im Blackout organisieren und neue Formen des Zusammenlebens finden.
von  Karina Beigelzimer , 5. März 2023

Ich schreibe diesen Text an einem ganz gewöhnlichen Tag in Odessa. Es gibt wieder keinen Strom, in der ganzen Stadt herrscht ein Blackout. Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt, dass es nur an einigen Stunden pro Tag möglich ist zu kochen, das Handy zu laden oder – in vielen Fällen – auch nur die Heizung aufzudrehen. Meine Heimatstadt liegt im Süden der Ukraine, am Schwarzen Meer. Trotzdem herrschen Mitte Februar frostige Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt.

Das Leben geht auch ohne Strom weiter

Seit mehr als einen Jahr herrscht in der Ukraine Krieg. Russische Soldaten haben Teile des Landes gewaltsam besetzt, die Einnahme der Großstadt Odessa ist das erklärte Ziel des Diktators Wladimir Putin. Das ist ihm zwar bisher nicht gelungen. Aber seine Armee greift aus der Luft die kritische Infrastruktur in den Vororten an. Immer wieder werden Kraftwerke und Anlagen zur Wasserversorgung getroffen, um der Bevölkerung das Leben so schwer wie möglich zu machen. Das Leid in der Zivilbevölkerung ist groß. Manchmal habe ich das Gefühl, wir befinden uns in einem „Escape Room“ – einem jener Abenteuerspiele, bei denen man mit viel Kreativität eine Aufgabe lösen muss. Unsere Aufgabe lautet: an Strom kommen. Ein Ziel, das immer schwieriger zu erreichen ist. Aber das Leben geht trotzdem weiter. Wir haben in Odessa Wege gefunden, mit der beschwerlichen Situation umzugehen.

Zur Person

Karina Beigelzimer ist Journalistin und Deutschlehrerin. Sie lebt und arbeitet weiterhin in ihrer Geburtsstadt Odessa.

Mal schnell, mal langsam

Wir haben gelernt, abwechselnd zu beschleunigen und zu entschleunigen. Wenn es Strom gibt, muss man schnell sein. Dann gilt es alle Akkugeräte aufzuladen: Laptops, Tablets, Handys, Taschenlampen und Powerbanks. Zugleich nützen wir die kurzzeitige Stromversorgung, um uns zu waschen und vielleicht auch die Haare zu trocknen, während die Waschmaschine läuft. Und vielleicht bügelt man noch die saubere Wäsche vom Vortag, bevor der Strom wieder weg ist. Im folgenden Blackout wird dann das Tempo gedrosselt. Wir haben gelernt, im Kopf umzuschalten, die Aufregung herunterzufahren.

Egal wie groß der Drang ist, Neuigkeiten aus Kiew, Charkiw oder aus dem Rest der Welt zu erfahren: Wir sehen nicht alle 30 Minuten auf das Handy, sondern nur noch alle zwei Stunden. Denn der Akku muss durchhalten, bis es wieder Strom gibt. Manchmal lässt sich das Handy ohnehin nicht zum Surfen nutzen. Das funktioniert im Blackout nur über mobiles Internet und auch diese Verbindung verschwindet immer wieder für bis zu 24 Stunden. In dieser Zeit kann man niemanden anrufen, keine Mails oder Textnachrichten schreiben. Und sich natürlich auch nicht über die Ereignisse außerhalb der eigenen vier Wände informieren. Das ist gerade auch für mich als Journalistin besonders schwierig: Man fühlt sich in solchen Situationen hilflos und völlig abgeschnitten vom Rest der Welt.

Die Langsamkeit hat auch Vorteile

Vor allem am Anfang haben mir diese Phasen der Abgeschnittenheit wie vielen anderen schwer zu schaffen gemacht. Aber man lernt, damit umzugehen, den Blackout kreativ zu nützen. Ich versuche, mich abzulenken, indem ich etwa ein Buch lese. Freunde haben mir unlängst erzählt, dass sie für ihre Kinder ganz neue Spiele erfinden, um sie zu unterhalten. Die Menschen rücken zusammen, man versucht sich gemeinsam abzulenken und zu beruhigen. Wenn es etwas Gutes an unsere misslichen Situation gibt, dann dass der Zusammenhalt gestärkt wird.

Die Oper von Odessa, ein Wahrzeichen der Millionenstadt am Schwarzen Meer.

Gaskocher sind Mangelware

Mein Zimmer sieht derzeit wie eine Werkstatt aus. Ich habe mir eine tragbare Powerstation angeschafft, dazu Taschenlampen, ein Radio und viele andere Geräte. Sie helfen mir, diese schwere Zeit zu überstehen und dennoch zu arbeiten. Manchmal gelingt das besser, manchmal schlechter. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in Odessa habe ich noch großes Glück, weil ich mit Gas heizen und kochen kann – auch bei Stromausfall. In vielen anderen Häusern gibt es aber dann weder Heizung noch Wasser. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen sich einen Wasservorrat anlegen. Viele kaufen einen Campingkocher, um sich wenigstens etwas Essen warm machen zu können. Wie Taschenlampen und Kerzen sind sie Mangelware geworden, die Preise haben sich vervielfacht.

Die Punkte der Unbesiegbarkeit

Als die massiven Beschüsse der Infrastruktur im Herbst begannen, haben die Behörden sogenannte „Punkte der Unbesiegbarkeit“ eingerichtet. Am ehesten ist das wohl mit Wärmestuben vergleichbar, die es in Österreich für obdachlose Menschen gibt. Diese Orte wurden in vielen Schulen und Verwaltungsgebäuden eingerichtet, aber auch in den Zelten des Rettungsdienstes. Dort produziert ein Generator Strom und Wärme. Wasser, Strom und Internet sind kostenlos verfügbar – rund um die Uhr. Die Menschen nutzen dieses Angebot, um sich aufzuwärmen, Handys und Laptops aufzuladen oder auch nur, um in Ruhe zu lesen oder zu lernen. Zwei Mal habe ich selbst als Freiwillige an solchen Punkten der Unbesiegbarkeit ausgeholfen. Ich war überrascht, wie gut diese Einrichtungen organisiert sind.

Cafés ähneln Großraumbüros. An jedem Tisch sitzen Menschen hinter Laptops und arbeiten.

Karina Beigelzimer, Journalistin und Deutschlehrerin aus Odessa

Kaffeehaus als Rückzugsort

Die Menschen verbringen viel Zeit in Cafés. Meist gibt es dort einen Generator, der auch während des Blackouts Strom erzeugt. Diese Geräte sind aber sehr teuer. Schon die Anschaffung kostet mindestens 2.000 Euro, dazu kommen tägliche Kosten für Benzin in der Höhe von 20 bis 30 Euro. Vor allem kleine Kaffeehäuser mit wenigen Sitzplätzen können sich das nicht leisten, einige mussten deswegen schließen. Andere Cafés ähneln tagsüber Großraumbüros: An jedem Tisch sitzen Menschen hinter Laptops und arbeiten. Auch die meisten Geschäfte haben sich Generatoren zugelegt. Leider machen diese einen höllischen Lärm, der in diesen Tagen und Wochen die ganze Stadt beherrscht.

Immer Bargeld mitnehmen

Trotzdem funktioniert die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs erstaunlich gut. Wie viele andere musste ich aber wieder daran denken, stets genügend Bargeld mitzunehmen, weil im Falle eines Stromausfalls die Kartenzahlung nicht überall akzeptiert wird. Man gewöhnt sich daran. Auch die Post wird verlässlich zugestellt, die Eisenbahn fährt ohne Verspätung. Ein Problem ist der Stadtverkehr: Denn während eines Blackouts fallen auch die Ampeln aus, was immer wieder zu Autounfällen führt.

Knatternde Generatoren beherrschen derzeit das Stadtbild

Der Humor hilft

Odessa war stets bekannt für seine Leichtigkeit, die Menschen hier versuchen, das Leben nicht unnötig schwer zu nehmen. Ganz verflogen ist diese Leichtigkeit trotz der misslichen Lage nicht. Natürlich sind wir alle hier ziemlich frustriert. Aber wir versuchen, nicht aufzugeben und unseren Humor zu behalten. Geflügelte Sprüche machen die Runde. Etwa dieser: „Wir sind ohne Strom, aber auch ohne Invasoren.“ Von einem normalen Leben kann aber in Odessa derzeit wirklich nicht die Rede sein, wir befinden uns vielmehr in einem ständigen Kampf ums Überleben. Jetzt warten wir ungeduldig auf den Sommer und hoffen auf einen Sieg – wie auch immer der aussieht. Denn wenn die Ukraine diesen unseligen Krieg verliert, könnte unser Land für immer in der Dunkelheit verschwinden.

erschienen in Ausgabe
BMZ 2023/03